Michelle W. und ihr Tannenbäumchen-Besuch bei Hanna K. im Frankfurter Gallusviertel
Als Michelle W. am Morgen des 18. November auf die Straße tritt, fühlt sie sich ein bisschen unsicher. Statt wie sonst ihr Büro in einer Großbank anzusteuern, führt sie ihr Weg diesmal ein paar hundert Meter weiter zu einem flachen Gebäude am Rande des Frankfurter Rothschildparks, das sie bislang immer nur beiläufig in ihren Mittagspausen wahrgenommen hatte: das Frankfurter Bürgerinstitut. Einige Wochen zuvor hatte sie im Intranet ihres Arbeitsgebers eine Notiz über eine karitative Aktion in der Vorweihnachtszeit entdeckt, die spontan ihre Neugier geweckt hatte. Die Idee, sich auf diese Weise sozial zu engagieren, fand sie großartig und noch am gleichen Tag teilte sie ihrer Chefin mit, dass sie gerne teilnehmen möchte. Für dieses ehrenamtliche Engagement wurde sie einen Tag von der Arbeit freigestellt.
Hanna K. schaut schon den ganzen Vormittag aufgeregt aus dem Wohnzimmerfenster ihrer kleinen Wohnung im Frankfurter Gallusviertel auf die Straße. Für heute hat sich Besuch angekündigt. Besuche, denkt Hanna K., waren schon seltene Ereignisse in ihrem Leben. Umso mehr fiebert sie diesem entgegen. Wer wohl kommen mag? Sie hat Plätzchen gebacken und Kaffee aufgesetzt. Bei aller Aufregung ist ihre Vorfreude groß.
Mittlerweile am Rothschildpark angekommen, klingelt Michelle W. an der Tür des Bürgerinstituts. Ira B., eine patente Ehrenamtliche, öffnet ihr die Tür, begrüßt sie herzlich. Beide begeben sich ins Souterrain des hellen Flachbaus und begutachten dort, was Ira B. schon organisiert und vorbereitet hat. „Mein Gott! Wie viele sind das denn?“, entfährt es Michelle W., als sie sieht, was alles auf Tischen und Fußboden steht. „Das müssen ja hunderte sein!“ Ira B. lächelt. „Ja, das war schon eine Menge Arbeit, aber wie immer ist alles rechtzeitig fertig geworden.“ Erneut klingelt es an der Tür. „Das müssen die anderen Helfer sein, die sich für heute Vormittag angekündigt haben.“ Mit einem Satz ist Ira B. die Treppe hochgesprintet. Viel Zeit hatte sie ja schließlich nicht, denn in sechs Tagen sollte die Aktion abgeschlossen sein. Also ans Werk!
Im wenige Kilometer entfernten Gallusviertel hat es sich Hanna K. in ihrem Sessel bequem gemacht. Wehmütig denkt sie zurück an vergangene Weihnachtsfeste und Adventswochen. Sie hatte die „stille Zeit“ immer sehr genossen im Kreis ihrer Lieben. Aber heute? Ihr Mann ist jetzt schon seit zehn Jahren tot und ihre Kinder und Enkel leben weit verstreut. Sie haben sicher keine Zeit, sich um die nostalgischen Erinnerungen einer alten Frau zu kümmern. Ob sich diesmal an Weihnachten jemand bei ihr sehen ließ? Auf einen Weihnachtsbaum oder sonstigen Schmuck verzichtete sie schon lange: Zu viel Mühe nur für eine alte Frau!
Michelle W. hat es fast geschafft. Schnell raus aus der Straßenbahn, die „Überraschung“ bloß nicht vergessen und schnellen Schrittes zwei Querstraßen weiter: da ist es ja schon. Als sie an der Klinkerfassade hochschaut, sieht sie Gesichter an mehreren Fenstern. Ob sie dabei ist? Rasch findet sie das Klingelschild mit dem richtigen Namen und kaum hat sie den Klingelknopf losgelassen, summt auch schon der Türöffner und sie hört im Wegdrehen noch „zweiter Stock“ aus dem kleinen Lautsprecher.
Im Bürgerinstitut am Rothschildpark denkt Ira B. an ihre Mitstreiterin Michelle, die jetzt sicher angekommen sein müsste. In Gedanken drückt sie ihr die Daumen, dass alles gut geht und Michelle und Hanna K. einen guten Draht zueinander finden. Sie selbst widmet sich dem, was sie am besten kann: Organisieren und Planen. „Es ist schön, dass jeder hier seine Talente bestmöglich einbringen kann und so alle von dieser Aktion profitieren“, geht es ihr durch den Sinn, als sie sich wieder dem Telefon zuwendet, um Telefongespräche mit den Verantwortlichen interessierter Unternehmen zu führen, ohne die diese wunderbare Aktion gar nicht möglich wäre. Jedes Jahr wirbt das Bürgerinstitut dafür, Unternehmen und Menschen wie Michelle zu finden, denen es die größte Freude ist, anderen eine Freude zu bereiten.
Aus der kleinen Wohnung im zweiten Stock des Wohnhauses im Gallus dringt fröhliches Lachen. Michelle W. und Hanna K. scheinen sich bei Kaffee und Gebäck prächtig zu unterhalten.
„Und dass Sie mir sogar ein kleines Tannenbäumchen mit Lichtern mitbringen! Jetzt habe ich ja doch noch meinen Weihnachtsbaum“, lacht Hanna K. Auch Michelle ist in guter Stimmung. Nie hätte sie erwartet, dass sie mit der alten Dame, die ja doch mehr als zweimal so viele Weihnachtsfeste erlebt hatte wie sie, so viel zu erzählen haben würde. Viele Anekdoten und Erinnerungen aus ihrer Jugend hat Hanna zu erzählen, auch persönliche Weihnachtsgeschichten, die schon lange darauf gewartet hatten, erzählt zu werden. Vom Schlittschuhlaufen auf dem zugefrorenen Jacobiweiher, von den kratzigen Wollstrümpfen, die sie als kleines Mädchen immer zu Weihnachten bekam, vom gemeinsamen Stollenbacken und von der Hausmusik mit ihrem Mann und ihren Kindern. Daraufhin stimmen beide ein fröhliches „Oh Tannenbaum“ zu Ehren des immergrünen Mitbringsels, das jetzt auf einem neu geschaffenen Ehrenplatz steht, an.
Die Lichterkette am Tannenbäumchen funkelt, als beide ihren Kaffee austrinken und Abschied nehmen. „Kommen Sie bitte im nächsten Jahr wieder, Sie müssen auch gar nicht bis zur Adventszeit warten“. Hanna K. strahlt, als sie Michelle im Treppenhaus nachwinkt.
Als Michelle ihrer Vorgesetzen am nächsten Tag von ihrem Einsatz berichtet, ist diese ebenfalls begeistert, denn sie liebt es, wenn die Dinge sich so fügen, dass alle Beteiligten glücklich sind. Nicht zuletzt profitiert auch der Arbeitgeber von Michelles Einsatz. Die Entscheidung, sich auf „handfeste“ Weise für die Mitmenschen zu engagieren, hat sich für die Bank als richtig erwiesen. Anfangs war die Managerin bezüglich des Erfolgs des betrieblichen Freiwilligenprogramms noch etwas skeptisch, aber das hat sich schnell gelegt. Soziales Engagement strahlt schließlich immer auf alle ab, nicht zuletzt auch auf die Kunden. Vielleicht wäre ja der ein oder andere unter ihren Geschäftskunden auch daran interessiert sich einzusetzen? Die Teilnahme an der Aktion „Tannenbäumchen auf Rädern“ war jedenfalls eine feine Sache und eine hervorragende Idee. Nach ihrer rundweg positiven Erfahrung würde Michelle ihrem Management empfehlen, den Einsatz noch ein wenig ausbauen.